K. Kellerhals: Das Salz in der Berner Bildungssuppe.

Cover
Titel
Das Salz in der Berner Bildungssuppe. 165 Jahre NMS Bern


Autor(en)
Kellerhals, Katharina
Erschienen
Bern 2018: NMS Bern
Anzahl Seiten
301 S.
von
Andrea De Vincenti, Pädagogische Hochschule Zürich

Anlässlich ihres 165-jährigen Bestehens gibt die Bildungsangebote auf allen Schulstufen umfassende Neue Mittelschule Bern (NMS, vormals Neue Mädchenschule) eine substanzielle, reich bebilderte Publikation heraus. Verfasserin ist die Bildungshistorikerin und ehemalige NMS-Dozentin Katharina Kellerhals, die einleitend klar den Anspruch formuliert, mehr als eine Festschrift mit «gefälligen Geschichten» (S. 13) zu verfassen. Kritische Distanz durch Quellenvielfalt und eine konsequente Einbettung der Geschichte der NMS in diejenige des bernischen Bildungswesens sowie in breitere gesellschaftliche Entwicklungen sollen sie auszeichnen und so «retrospektive Mythenbildung und Ideologisierung» vermieden werden (S. 13).

Das 301 Seiten starke Buch ist chronologisch aufgebaut und blickt in sechs Abschnitten auf die Geschichte der NMS von 1831 bis 2002. Neben dem Haupttext enthalten die jeweiligen Zeitabschnitte einschlägige Themen- und/oder Personenfenster. Eine Kürzestzusammenschau, eine synoptische Chronologie, ein Kurzporträt der verschiedenen Schulstufen und -typen der NMS im Jahr 2017 sowie Quellen-, Literatur- und Abbildungsverzeichnis finden sich am Schluss des Bandes.

Nach einer «Vorgeschichte» (1831 – 1851), die kurz Ideen der Volksbildung, der Bildung in einer Demokratie sowie die gesetzlichen Grundlagen zu staatlichen und priva-ten Schulen in Bern skizziert, taktet der Band im zweiten Abschnitt (1851 – 1877) mit der 1851 erfolgten Gründung der Neuen Mädchenschule auf. Diese wird als Reaktion auf eine liberale Wahlpolitik gegen einen christlich-evangelischen Kandidaten für eine Religionslehrerstelle an der städtischen Einwohner-Mädchenschule sowie als Massnahme im Kampf gegen eine angeblich drohende gesellschaftliche Säkularisierung geschildert. Ähnliche Gründungsgeschichten weisen die ebenfalls christlich-evangelischen Schulen Evangelisches Seminar Muristalden (heute Campus Muristalden) sowie das heutige Freie Gymnasium auf, mit denen sich im Lauf der Geschichte der NMS immer wieder kokurrierende sowie auch kooperierende An- und Abgrenzungen ergaben. Neben ihrer christlich-evangelischen Ausrichtung bezog die reine Mädchenschule ihre Kontur auch aus der im dritten Abschnitt (1877 – 1910) dargestellten damaligen Auffassung einer spezifisch weiblichen, der doppelten Vorbereitung auf Mutterschaft/Hausfrauendasein und Beruf gewidmeten Bildung.

Den mit «Krise und Kriegsjahre» überschriebenen vierten Abschnitt (1910 – 1950) dominieren Debatten um Lehrerinnenüberfluss und Reorganisationen der Seminare in den Jahren vor, während und nach den beiden Weltkriegen. Hygienebewegung, Reformpädagogik und die Soziale Frage kontextualisieren die gesteigerte Aufmerksamkeit für Turn- und Schwimmunterricht sowie die Einführung des bei den Schülerinnen zunächst auf eine «gewisse Ablehnung» stossenden Hauswirtschaftsunterrichts (S. 142). Autorität und Freiheit – so der damalige Direktor angesichts der Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs – vertrügen sich kanalisiert in einer «Schule unter dem Evangelium» gut (S. 149), zu vermeiden sei lediglich der (wohl politische) Gesinnungsunterricht. Diese Selbstsicherheit wich in der nächsten Phase (1950 – 1982) den offen geäusserten Schwierigkeiten des scheidenden Direktors, «die ‹Polarität› eines weltlichen Auftrags mit einer ‹evangelischen Bekenntnischule› [sic!] in Einklang [zu] bringen» (S. 188). Immer wieder bemühten damalige Akteurinnen und Akteure den Topos einer veränderten Gesellschaft, an die sich die Schule anzupassen habe. So wurden mit Blick auf die Arbeits-, Verkehrs- und Siedlungsverhältnisse 1957 vielfältige Forderungen formuliert, etwa auch, den Stellenwert der Allgemeinbildung in der Lehrpersonenbildung neu zu bestimmen (S. 187). Die in den 1960er-Jahren immer noch als reine Mädchenschule geführte NMS deutete den zeitgenössisch diagnostizierten Niedergang der «Aera des Volksschullehrers» und die angebliche Entwicklung der Schule zum «Reich der Frauen» als Standortvorteil – entsprechend wurden neue Seminar- und Fortbildungsklassen eröffnet (S. 191). Den auch als Bollwerk gegen eine drohende «Gymnasialisierung der Lehrerinnenbildung» sowie gegen falsch verstandenen Feminismus (S. 191; 202) bezeichneten Kampf für eine reine Frauenbildung gab die NMS 1986 mit der Einführung der Koedukation auf. Im letzten Abschnitt (1982 – 2002) wird der aus Sicht der Akteurinnen und Akteure wehmütige Abschied von der seminaristischen und der Weg hin zur bildungspolitisch gewollten, tertiarisierten Lehrerinnen- und Lehrerbildung beschrieben. Verabschiedet wurde auch die nicht mehr gesetzeskonforme konfessionelle Ausrichtung der NMS zugunsten eines Unterrichts «auf der Grundlage des Evangeliums Alten und Neuen Testamentes» (S. 260). Viele dieser Entwicklungen teilt die NMS in groben Zügen natürlich mit anderen Ausbildungsstätten in der Deutschschweiz. Ob sie deshalb das Salz in einer sonst wohl als fade zu bezeichnenden Bildungssuppe war oder vielmehr jede Bildungsinstitution ihre je eigene Kultur mit je eigenen Bezugspunkten hervorbrachte, könnte in weiteren, alltags- und kulturgeschichtlich fokussierten Untersuchungen durchaus gewinnbringend untersucht werden. Dazu könnte zu der chronologischen, bis etwa 1950 stark an den Direktoren orientierten Erzählung noch mehr Abstand gewonnen und etwa mittels einer dezidiert thematischen Struktur noch konsequenter auf die Verzahnung zwischen den jetzt teilweise den Kapiteln vorangestellten oder in Themenfenster ausgelagerten gesellschaftlichen Entwicklungen und Debatten (z. B. über weibliche Bildung und Berufstätigkeit, Reformpädagogik und Kindergarten, Tertiarisierung) und den innerschulischen Entwicklungen geachtet werden. Damit würden die Direktorenperspektiven und die immer auch ein Fortschreiten implizierende Chronologie weiter dezentriert und relativiert.

Insgesamt legt Katharina Kellerhals mit ihrer Geschichte der NMS Bern eine sehr lesenswerte, reichhaltige, quellengesättigte und dennoch nicht kontext- und theorielose Studie vor, der (dem tradierten Format der Festschrift von Bildungsinstitutionen gegenüber) die anfangs postulierte Öffnung hin zu Mehrperspektivität sowohl bei den Akteurinnen und Akteuren, aber auch bei den historiografischen Ansätzen – etwa hin zu Fragen der Geschlechtergeschichte oder der Alltagsgeschichte – durchaus gelingt.

Zitierweise:
Andrea De Vincenti: Kellerhals, Katharina: Das Salz in der Berner Bildungssuppe.165 Jahre NMS Bern. Bern: NMS Bern 2018. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 81 Nr. 4, 2019, S. 74-76.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 81 Nr. 4, 2019, S. 74-76.

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